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„Wir statt ich?“

In einer Zeit, in der Individualität und Selbstverwirklichung hochgehalten werden, scheint das Leben in Gemeinschaft schwierig. Doch gibt es sie noch...

Ja, es gibt sie noch - die Gemeinschaften, in denen Menschen sich binden, füreinander einstehen und ein gemeinsames Ziel verfolgen. Was können wir von ihnen lernen, insbesondere in einer Zeit, die mehr denn je nach Orientierung und Geborgenheit sucht?

In Gesprächen mit einer Frau, die in einer traditionellen evangelischen Glaubensgemeinschaft als Schwester lebt, habe ich faszinierende und tiefgehende Einblicke gewonnen. Sie lebt mit ihrer Gemeinschaft nach Prinzipien, die über das tägliche Zusammenleben hinausgehen. Die Gemeinschaft gründet auf einem festen Glauben, einem gemeinsamen Dienst und einer gelebten Verantwortung füreinander.

Verbindlichkeit als Grundlage

„Wenn ich mit einem riesigen Defizit komme und erwarte, dass jemand anderes es für mich stillt, dann pralle ich gegen die Wand“, sagt sie. In einer Gemeinschaft, in der alle Verantwortung für den anderen tragen, ist es wichtig, die eigenen Erwartungen zu hinterfragen. Gemeinschaft ist kein Ort, um Mängel zu kaschieren oder Defizite auszugleichen, sondern ein Raum des Wachstums und der gegenseitigen Unterstützung.

Verbindlichkeit erfordert, dass jeder Einzelne bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und sich wirklich einzubringen. „Die Frage ist nicht, was bekomme ich, sondern wie kann ich dem anderen dienen?“, betont sie. In einer Gesellschaft, die oft das Ich über das Wir stellt, sind solche Gedanken eine kraftvolle Erinnerung daran, dass Gemeinschaft nicht durch Konsum entsteht, sondern durch aktives Geben und Empfangen.

Nicht ausgesucht, aber verbunden

In einer Gemeinschaft, wie diese Frau sie (er)lebt, gibt es keine Wahl, mit wem man zusammenlebt. Die Mitglieder werden nicht ausgesucht, sondern sind durch den gemeinsamen Glauben und das gemeinsame Ziel verbunden. „Es gibt keinen perfekten Ort, keine perfekte Gemeinschaft“, sagt sie. „Wo Menschen zusammenkommen, kommen sie auch an ihre Verletzungsgrenzen. Die Aufgabe ist, miteinander zu wachsen und zu lernen, trotz und gerade wegen dieser Herausforderungen.“

Eine der größten Herausforderungen in einer Gemeinschaft ist der Umgang mit unterschiedlichen Charakteren und Persönlichkeiten. Da entstehen Spannungen im Zusammenleben. Doch genau in diesem Prozess liegt auch das Potenzial für Wachstum. „Es ist ein Reifeprozess“, erklärt sie. „Genauso wie in einer Ehe muss man auch hier lernen, mit den Stärken und Schwächen des anderen umzugehen.“

Das „Vergangenheits-Ich“

Besonders spannend ist der Aspekt der persönlichen Entwicklung innerhalb einer Gemeinschaft. Sie berichtet, dass sie oft in ihre eigene Vergangenheit zurückblickt und feststellt, wie sich ihre Haltung zu anderen und zu Konflikten verändert hat. „Ich habe gelernt, weniger zu urteilen, was der andere denkt oder macht. Es ist wichtig, weit zu sein und nicht alles verstehen zu wollen, was andere tun“, sagt sie. Dieser Perspektivwechsel, das Nachdenken über die eigene Vergangenheit und das Erkennen der eigenen Fehler, ist ein Schlüssel für das Leben in einer Gemeinschaft.

„Der Mensch wird am DU zum ICH“, zitiert sie Martin Buber und erklärt, dass echte Gemeinschaft immer auch ein Spiegel für die eigene Entwicklung ist. „Nur wenn ich bereit bin, mich selbst zu hinterfragen und nicht ständig die Fehler der anderen zu sehen, kann ich in echten Beziehungen wachsen. In einer Gemeinschaft lernt man, sich selbst immer wieder neu zu betrachten und an sich zu arbeiten“.

Gemeinschaft als „weites Herz“

Sie betont, wie wichtig es ist, ein „weites Herz“ zu haben. „Besonders in Gemeinschaften, die sehr unterschiedliche Charaktere zusammenbringen, ist es notwendig, eine Toleranz und Akzeptanz zu entwickeln, die über das eigene Verständnis hinausgeht.“ Sie erinnert sich an viele Momente des theologischen Austauschs und der Reflektion, in denen unterschiedliche Meinungen und Auslegungen des Glaubens aufeinandertrafen. Doch trotz aller Unterschiede finden sie immer wieder einen gemeinsamen Nenner: Das Fundament des Glaubens und das Ziel, gemeinsam für Gott zu leben.

„Wenn wir in Gemeinschaft sind, dürfen wir uns nicht auf unseren eigenen Standpunkt versteifen. Wir müssen das Gespräch suchen, den anderen verstehen und unsere eigenen Erwartungen überprüfen“, erklärt eine Mitschwester. „Dieses weite Herz ist notwendig, um die Gemeinschaft nicht als Ausweg aus den eigenen Defiziten zu sehen, sondern als ein Ort des Gebens, des gemeinsamen Wachstums und der Unterstützung.“

Der Platz der Gemeinschaft in der heutigen Gesellschaft

Die Frage, die immer wieder auftaucht, ist: „Was ist der Platz von Gemeinschaften in der heutigen Gesellschaft?“ Diese Frage stellt sie sich auch, besonders in einer Zeit, in der soziale Bindungen oft flach und oberflächlich erscheinen. „Die Antwort ist nicht einfach, aber eines ist klar: Gemeinschaft hat eine tiefe Bedeutung, die weit über die Bedürfnisse des Einzelnen hinausgeht.“

„Es geht nicht nur um uns. Es geht darum, einen Unterschied zu machen, zu dienen und zu zeigen, dass es einen Weg gibt, der mehr bietet als das, was wir in der Gesellschaft oft erleben“, sagt sie. „Gemeinschaft ist nicht nur ein Rückzugsort, sondern ein Ort, an dem wir gemeinsam die Welt gestalten können, indem wir Gott dienen und einander helfen.“

Fazit

Letztlich zeigt sich, dass Gemeinschaft in ihrer tiefsten Form mehr ist als ein Zusammensein aus praktischen oder sozialen Gründen. Es geht um Verbindlichkeit, um das gemeinsame Leben und Glauben, um das Wachsen aneinander und füreinander. Und vielleicht ist das der Weg, den immer mehr Menschen suchen – einen Weg, der sowohl den eigenen Defiziten als auch den Herausforderungen der Gesellschaft begegnet und gleichzeitig das große Ziel im Blick behält: das Leben in einer tieferen, verbindlicheren Beziehung zueinander und zu Gott.

Es liegt eine tiefe Weisheit in den Prinzipien, die diese Gemeinschaften leben, und sie bieten wertvolle Impulse für uns alle, die wir vielleicht nach neuen Formen des Miteinanders und der Bindung suchen.

Katharina Rach, Fachstelle Gemeinschaft

 

Herzliche Einladung zum nächsten Online-Talk together der Fachstelle Gemeinschaft: 21.9. um 19 Uhr - Anmeldung