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Wie war das eigentlich mit Judas?

Hat Judas Jesus nur wegen des Geldes verraten und verkauft? Welche Beweggründe könnte er noch gehabt haben? Und was hat das mit uns heute zu tun?

Ich bin beim SPRING-Festival und halte meine Andacht zum Thema „Gemeinschaft“ über die Jünger, die mit Jesus unterwegs waren. Einer, der mit dabei ist, ist Judas. In einem Nebensatz sage ich, dass Judas nicht wegen der 30 Silberlinge Jesus verraten hat und werde hinterher drauf angesprochen.

Wie ist das mit Judas? Was ist seine Motivation gewesen, Jesus zu verraten? Wenn es wirklich nur um die 30 Silberlinge ging, warum erhängte er sich dann hinterher? Angeregt durch die Frage einer Teilnehmerin, habe ich mich noch mal auf den Weg gemacht und die Bibelstellen nachgelesen.

Judas war ein politischer Eiferer. Er war einer derjenigen, die wollten, dass die Römer aus dem Land gejagt werden. Judas wollte, dass Israel wieder für sich alleine verantwortlich ist. Politische und religiöse Unabhängigkeit, die Selbstverantwortung der Juden für ihren Staat und nicht mehr diese heidnischen Statthalter im Land zu haben, waren seine Ziele. Ich kann mir vorstellen, dass so einiges schief lief im Staate Israel und von daher es einige Eiferer gab, die für ein freies Israel gekämpft haben. Bei einer noch nicht so ausgeprägten Demokratie, wie wir sie heute haben, denke ich, war es ganz schön schwierig, gegen den Staat zu sein. Man konnte die Römer nicht einfach abwählen – und ein friedlicher Umsturz, wie wir ihn 1989 in der DDR erlebt haben, das ist auch eine große Seltenheit und bestimmt nicht Judas Sache.

Dieser Judas, der so eine große Sehnsucht danach hat, dass sein Land endlich wieder Gottes Land ist, der trifft auf Jesus. Einen Mann, der leidenschaftlich vom Reich Gottes erzählt, der Visionen davon malt, was es bedeutet, wenn die Menschen auf Gott hören und seinem Wort vertrauen. Da ist einer, der hinterfragt, was die Verantwortlichen machen. Einer, der Widerworte gibt, der sich nicht aufs Glatteis führen lässt, der Antworten gibt, die mehr sind als leere Parolen.

Und nun ist er schon drei Jahre mit ihm unterwegs und Judas stellt fest: So wirklich ändern tut sich nichts. Ja, die Menschen kommen, hören ihm zu. Viele machen sich auf den Weg und nehmen Mühen auf sich, um Jesus überhaupt zu hören. Judas hat die Macht von Jesus erlebt. Er hat die Wunder gesehen, die Jesus getan hat. Er hat die Wunder gesehen, die sie selber getan haben, die Heilungen, die geschehen sind, als Jesus sie ausgesendet hat. Und er sagt seinen Jüngern, dass sie noch viel Größeres tun werden als er, Jesus. Aber politisch verändert sich nichts.
 

Da hat es in den drei Jahren so viel Verheißungsvolles gegeben. Wer im Johannes-Evangelium liest, erfährt, dass sie jetzt das dritte Mal in Jerusalem sind. Jerusalem, der wichtigste religiöse und politische Ort in Israel. Und dann noch zum Passahfest, jetzt muss doch was passieren... Und ich stelle mir vor, dass es für Judas nur in eine Richtung gehen kann. Es muss jetzt was passieren, indem sich die politischen Verhältnisse verändern und Jesus, der schon so oft seine Macht gezeigt hat, der sogar Tote auferweckt hat, der muss doch jetzt endlich zeigen, welche Macht er hat und dass es politisch endlich losgehen muss.

Ich denke mir, dass Judas auch ein bisschen strategisch überlegt hat, wie er das unterstützen kann. Also warum nicht den Gegnern sagen, wo sie Jesus finden werden. Das wäre doch eine gute Möglichkeit, dass Jesus seine Herrlichkeit zeigen kann. Und damit das Ganze nicht auffällt, sollte man zu dem angebotenen Geld nicht nein sagen.

Und als sie zusammen beim letzten Abendmahl sitzen, da sagt Jesus auch noch, dass ihn jemand verraten wird. Jesus weiß, dass es Judas ist, und er sagt es ihm auch noch auf den Kopf zu (Mt. 26,25). Ich kann mir vorstellen, dass es Judas ganz schön erschrocken hat, dass Jesus von seinen geheimen Plänen wusste. Jetzt war alles aufgeflogen. Jetzt hätte Jesus auch sagen können, das war's Judas, raus aus der Gemeinschaft! Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben und lass dich nie wieder hier blicken. Jesus hätte sagen können: Meine lieben Jünger, packt eure Klamotten, wir hauen hier ganz schnell ab. Wir suchen das Weite und die Sicherheit, damit der Verrat nicht stattfinden kann.

Er hat auch nicht dem Judas ins Gewissen geredet und hat gesagt: Mensch Judas, lass es sein! Warum verrätst du mich? Was ist dein Ziel? Jesus hat zu Judas gesagt: Was du tust, das tue bald (Joh. 13,27)! Das ist doch wie eine Bestätigung für Judas. Jesus fordert ihn auf: Zieh los und mach, was du dir vorgenommen hast. Was da wohl in Judas abgegangen ist? Statt rauszufliegen kommt die Aufforderung Jesu, es bald zu tun.

Also zieht Judas los und führt die Soldaten und die Ältesten und Hohepriester zum Garten Gethsemane. Jetzt kommt für Judas die Stunde der Wahrheit. Jetzt muss Jesus sich doch zeigen, seine Macht beweisen. Jetzt wird er endlich seine Macht und Herrlichkeit zeigen! Und was passiert? Jesus zeigt seine Macht, indem er das abgeschlagene Ohr heilt, aber er zeigt nicht seine Macht, in dem er sich der Verhaftung widersetzt. Was Judas da wohl gedacht hat? Vielleicht, wenn nicht hier, dann wird Jesus vor Gericht zeigen, was er kann.

Also muss er irgendwo im Hintergrund dabei gewesen sein. Judas bekommt mit, dass Jesus den Hohepriestern vorgeführt wird und dann zu Pilatus geschickt wird. Judas muss gewusst haben, was mit Menschen passiert, die von den Führern des Volkes gesucht werden. Er muss erlebt haben, dass es dann um eine Gerichtsverhandlung geht und dass die Führenden des Volkes dafür sorgen werden, dass Jesus verurteilt wird und stirbt. Das war doch gängige Praxis in Israel und im Römischen Reich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Judas da blauäugig reingegangen ist.

Meine Idee ist: Judas hat gehofft, jetzt wird Jesus sich zeigen. Jetzt wird er deutlich machen, dass er der Christus ist, dass er der Messias ist, auf den alle schon so lange warten; dass sich in Jesus endlich das erfüllt, was im Alten Testament schon beschrieben wurde. Er erlebt einen Jesus, der nicht widerspricht, sondern wie ein Lamm zu Schlachtbank geführt wird, erlebt einen Jesus, der so ganz anders ist als Judas gedacht hat.

Ich kann mir vorstellen, dass es Judas reute, weil alle seine Hoffnungen zerbrochen sind. Dass er erkannte, wie falsch er gelegen hat, weil er Jesus ans Messer geliefert hat und sieht, dass es zum Tode führen wird. Was muss das für eine Verzweiflung sein, wenn alle Hoffnungen dahinschwinden? Was mag da in Judas vorgegangen sein, dass er so eine Kehrtwende macht? Er will das Geld wieder zurückgeben, weil er das so nicht gewollt hat. So sollte die Geschichte nicht ausgehen.

In Mt. 27, 3-5 steht: Als Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass er (Jesus) zum Tode verurteilt war, reute es ihn, und er brachte die dreißig Silberlinge den Hohenpriestern und Ältesten zurück und sprach: Ich habe gesündigt, unschuldiges Blut habe ich verraten. Sie aber sprachen: Was geht uns das an? Da sieh du zu! Und er warf die Silberlinge in den Tempel, ging davon und erhängte sich.

Was für eine Erkenntnis muss ihn da getroffen haben? Es ist nicht so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hat. Jesus hat nicht seine Macht gezeigt. Die anderen Jünger sind weggelaufen. Als Pilatus einen Verbrecher freigeben will, schreit das Volk nach Barnabas und nicht nach Jesus. Misserfolg auf ganzer Linie. Das reut Judas. Seine Hoffnung ist zerbrochen, da nützen ihm auch die 30 Silberlinge nichts. Das war es nicht wert.

30 Silberlinge, das sind 30 Tagessätze für einen Arbeitnehmer. Ein Monatsgehalt zwischen 3.000 und 10.000 € wären das heute. Wenn es ihm wirklich nur ums Geld gegangen wäre, dann hätte er das Geld nicht zurückgebracht.

Für 10.000 € jemanden ans Messer liefern, mit dem man drei Jahre unterwegs war, der politisch das umsetzen könnte, wovon man selber träumt? Wenn es Judas nur ums Geld gegangen wäre, dann hätte er es einstecken und damit ein neues Leben anfangen können. Dann hätte er nicht weiterverfolgt, wie es mit Jesus weitergeht. Wenn er allein auf das Geld aus war, dann wäre er nicht zurück zu den Ältesten und Hohepriestern gegangen und hätte seine Schuld bekannt. Da steht er vor den Verantwortlichen in der religiösen Kommandozentrale und bekennt sich schuldig, aber die, die gerade noch einen Unschuldigen für schuldig gesprochen haben, lassen ihn als Schuldigen laufen. Sie weisen die Verantwortung von sich.

Für Judas müssen alle Hoffnungen, alle Ideen für ein politisch unabhängiges Israel in dem Moment zusammengebrochen sein. Was für eine Hoffnungslosigkeit muss sich in ihm breit gebracht haben, so dass er keinen anderen Ausweg sah als den, dass er sich erhängt. Da wurde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen, da wurden seine Hoffnungen zerstört, da schwand alles dahin, was er bis dahin geglaubt hat und wie sein Weltbild funktionierte.

Und die, die ihm so großzügig das Geld bezahlt haben, ihnen ist klar, dass sie dieses Geld nicht im Tempel spenden können. Die, die den Verräter bezahlt haben, die nehmen das Geld und kaufen einen Acker, für die Leute, die Fremdlinge sind, um sie dort zu beerdigen. Und weil es Blutgeld ist, nennen sie den Acker Blutacker (Mt. 27, 6-8).

Judas war ein Teil von Gottes Plan (Mt. 26,24). Schon im Alten Testament wird darauf hingewiesen, dass der Menschensohn sterben muss, dass er sein Leben lässt für viele. Judas ist der, der einen Anstoß gibt zu diesem Weg. Was in den Evangelien steht, dass Jesus sagt, es wäre besser, dass er nicht geboren worden wäre, das macht mich manchmal nachdenklich und traurig. Ich weiß nicht, ob dieser Satz wirklich von Jesus stammt. Wie ich auch nicht weiß, ob und welchen Anteil der Satan an dieser ganzen Geschichte hat. Vielleicht hat jemand anders darauf eine Antwort...

Was wäre gewesen, wenn Judas ihn nicht verraten hätte? Hätte es dann ein anderer gemacht? Hätten die Führer des Volkes einen anderen Zeitpunkt gefunden, um ihn zu ergreifen und vor Gericht zu stellen? Was wäre gewesen, wenn Judas die vergebende Liebe von Gott in Anspruch genommen hätte? Was wäre passiert, wenn er in seiner Trauer zu Johannes gegangen wäre und hätte ihm alles erzählt? Was wäre geschehen, wenn er sich einfach versteckt hätte und dann drei Tage später dem Auferstandenen wieder begegnet wäre?

Wie wäre das, wenn wir später in der Ewigkeit neben Judas sitzen würden und er uns erzählt, wie es ihm damals ergangen ist. Wenn er von seinen Befürchtungen und Ideen; von seinen Hoffnungen und Enttäuschungen erzählen würde und davon, dass er erst im Gericht begriffen hat, worum es da eigentlich ging.

Was ich verstehe: Jesus nutzt seine Macht nicht aus. Er geht den Weg, den Gott für ihn erdacht hat. Ich weiß, dass Jesus auch für meine Schuld dort am Kreuz gestorben ist. Ich weiß, dass ich ihn so manches Mal in meinem Leben durch mein Tun verraten habe. Auch ich bin jemand, die sich wie Judas in Dinge verrennen kann, die meint, alles genau zu wissen, zu verstehen, wie der Hase durch den Pfeffer läuft. Auch ich bin jemand, die schon mal große Fehler gemacht hat. Ich bin so froh und dankbar darüber, dass ich die Bilder wahrnehme, die Jesus vom liebenden Vater gemalt hat. Ich bin dankbar, dass ich aus dieser Vergebung lebe und auch nach einem Verrat und Versagen immer wieder zum Vater kommen darf.

Sabine Lente, Bonn