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Wenn Oma 10.000 km weit weg stirbt

Wenn Verwandte oder Freunde sterben und du kannst nicht hin, ist das herausfordernd, wie Judith Ricken berichtet.

Früher hatte ich mal gehört, dass viele denken, es sei für Missionare schwer, dass sie bei Hochzeiten, Geburtstagen und Weihnachten nicht da sind, dass es aber viel schlimmer sei, wenn man in den schweren Zeiten, bei Todesfällen und Krankheiten nicht da sein kann. Ob das stimmt, und ob ich das auch so empfinden würde, wusste ich damals noch nicht.

Zugegeben: Hochzeiten, Geburtstage und Weihnachten verpasste ich fast jedes Jahr, freute mich dann aber über die Bilder, die ich zugeschickt bekam.

Ich hörte von einer Missionarin, die zur Beerdigung ihrer Mutter nicht nach Hause geflogen war. Ein anderer sagte: „Ich fliege lieber zum Geburtstag meiner Oma nach Hause als zur Beerdigung. Dann kann ich sie wenigstens nochmal sehen“.

Irgendwie blieb das Argument in meinem Kopf hängen. Als ich mich 2013 zu meinem ersten Aufenthalt nach Japan aufmachte, verabschiedete ich mich ganz bewusst von meiner Oma. Ich würde sie eventuell ja nicht wiedersehen. Als es 2017 zum zweiten Japanaufenthalt ging, verabschiedete ich mich wieder ganz bewusst von meiner Oma. 2021 besuchte ich sie erneut im Heimataufenthalt. Es ging ihr gesundheitlich mal besser, mal schlechter, sie wurde mehrmals operiert, aber insgesamt kämpfte sie sich durch. „Auf keinen Fall ins Altenheim“ war ihre Motivation. 

2022 wurde sie 90 Jahre alt. Ich entschied zu ihrem Geburtstag nach Deutschland zu fliegen, auch wenn es nur für eine Woche und knapp nach unserem Sommercamp war. Ich initiierte das Treffen, meine Mutter organisierte es und alle würden kommen: Meine Tante, mein Bruder mit Familie, ein Cousin meiner Mutter. Dass ich auch dabei sein würde, wusste meine Oma nicht. Es war eine Überraschung.

Der Geburtstag war ein voller Erfolg. Es entstanden schöne Fotos, meine Oma freute sich. Auch danach telefonierten wir regelmäßig. Sie fragte mich stets, wann ich das nächste Mal nach Deutschland kommen würde, und dass sie nicht sicher sei, ob sie dann noch lebe. Im November 2023 postete meine Mutter dann an einem Tag ein Foto im Familienchat, dass meine Oma im Krankenhausbett zeigte. Ich war erschrocken, was war passiert? War sie gestürzt?

Am nächsten Morgen sah ich dann, dass sowohl meine Mutter als auch mein Bruder versucht hatten, mich anzurufen. Es musste also was Ernstes sein. Beim Rückruf – in Deutschland war es 23.30 Uhr – ging meine Mutter zu meiner Überraschung an ihr Handy. Oma habe mal wieder Bauchbeschwerden und die Ärzte hätten ein Loch im Darm festgestellt. Oma hatte sich entschieden, nicht noch einmal operiert werden zu wollen, sondern zu sterben.

Ich war geschockt – jetzt war es also so weit. Ich weinte und fragte, ob ich mit Oma telefonieren konnte. Sie war noch wach und ich konnte über den Videochat des Handys meiner Mutter mit ihr sprechen. Sie sagte mir, ich solle nicht traurig sein, aber sie sei schon so oft operiert worden und hätte so viele Schmerzen und könne kaum noch Laufen, es habe einfach keinen Sinn mehr. Ich wünschte ihr alles Gute, verstand ihre Entscheidung und war dennoch traurig.

Meine Familie zusammen in Deutschland, ich allein in Japan. Es war kaum auszuhalten. Ich wollte sofort nach Hause fliegen. Aber machte das Sinn? Ein Gespräch mit meinem Teamleiter half mir, herauszufinden, was ich eigentlich wollte. Ich wollte sie nicht auf jeden Fall nochmal wiedersehen. Ich hatte sie letztes Jahr an ihrem Geburtstag getroffen und regelmäßig mit ihr telefoniert. Es gab auch nichts mehr zu klären. Sie liebte mich, ich liebte sie – das wussten wir beide.

Aber ich wollte nicht allein trauern. Ich wollte mit meiner Familie gemeinsam weinen und Abschied nehmen. Jeder ahnt zwar, wie das ist, wenn jemand Geliebtes stirbt, aber wie das ist, meine Oma zu vermissen, das weiß eben nur meine Familie. So entschied ich, zur Beerdigung nach Hause zu fliegen.

Am nächsten Tag rief meine Mutter erneut an. Ich dachte, sie gibt mir ein Update – aber nein. „Oma ist gestern Abend friedlich eingeschlafen.“ Erneuter Schock – so schnell? Das war keine 24 Stunden nach unserem ersten Telefonat. Jetzt war es also endgültig. Wie gut, dass ich nicht versucht hatte, sie nochmal zu sehen, denn das hätte ich gar nicht rechtzeitig geschafft.

Umso froher war ich, dass ich zum 90. Geburtstag da gewesen war. Dort war auch das Foto entstanden, das bei der Beerdigung verwendet wurde. Ich flog für die Beerdigung nach Hause. Es tat gut, mit meiner Familie zu trauern und zusammen zu sein. Ich würde es wieder so machen.

Was ich gelernt habe: Trauer und der Umgang damit ist individuell. Nur weil jemand anderes nicht für die Beerdigung nach Hause fliegt, kann es dennoch für dich wichtig sein. Trotzdem kann das Verhalten anderer zur Orientierung dienen. 

Im ersten Moment des Schocks nach Erhalten der Todesnachricht ist es hilfreich, mit jemandem zu sprechen, da man selbst von Emotionen überwältig ist und allein nicht unbedingt eine gute Entscheidung trifft.

Wenn du jemanden unbedingt noch einmal sehen möchtest, fliege hin, solange dieser wichtige Mensch noch lebt. Auch wenn es nur für ein paar Tage und sehr teuer ist – andere müssen das nicht verstehen. Gemeinsam mit Familie und Freunden zu trauern, kann sehr guttun und den Abschiedsprozess einfacher machen.

Judith Ricken, Japan